Die Entschuldigung

Die Entschuldigung

 

Manchmal sinken die Gedanken hinab in eine Fremde, als strebten sie nach einer anderen Dimension. Oft begegnen mir auf dieser Reise Erinnerungen aus der Kindheit und  verklären mein Empfinden hinein in eine geheimnisvolle Atmosphäre gläsern fragiler Geborgenheit. Doch sind es nicht nur Visionen vergangener Freuden und Wohlgefühle, sondern auch Denkwürdigkeiten des Lernens und Verstehens aus dieser unbeschwerten Zeit.

So entsinne ich mich auch gerne eines Ereignisses, das mir in einer besonderen Begegnung mit dem Großvater wohl seinerzeit ein Stück Lebensweisheit vermittelt hat.

Die Scheune des stillgelegten landwirtschaftlichen Anwesens der Großeltern barg in den damaligen Nachkriegsjahren eines der zahlreichen, kleinen Paradiese meiner Knabenjahre. Auch war dieses fast gänzlich aus Holz gezimmerte Gebäude  besonders anziehend für uns Kinder, weil es zu den Verbotszonen gehörte. In der unerfahrenen Blindheit für die Gefahren mangelte es dem kindlichen Verstand an Einsicht. So hatten wir auch wenig Verständnis für dieses Verbot. Warum musste nur immer alles, was Spaß macht, verboten sein?

Der Großvater, durch einen Arbeitsunfall krank und gebrechlich, wurde von der Familie jährlich durch Heu unterstützt, das seine Söhne und Töchter den in Wiesen umgewandelten, einstigen Ackerflächen abtrotzten und das der alte Mann in den Wintermonaten an andere Bauern verkaufen konnte, um seine dürftige Rente ein wenig aufzubessern.

Das gelagerte Heu nun aber bot uns abenteuerhungrigen Kindern einen Spielplatz ganz besonderer Güte. Beim Sprung in die Tiefe etwa, hinein in einen Heuhaufen, konnten wir so trefflich eintauchen in die Phantasiewelten der frühen Jugend und ganz selbstvergessen nach Lust und Laune toben.

Nicht selten waren wir dabei viel zu laut, um nicht bald bemerkt zu werden. Im enthemmten Drang der Jugend wurde dann meist die Flucht noch zusätzlich zum Abenteuer mit besonderem Reiz.

Genauso geschah es denn auch an jenem denkwürdigen Tag, von dem ich berichten möchte. Lachend und kreischend suchten wir gerade das Weite, nachdem uns der Großvater durch lautes Klopfen am großen Scheunentor mit seinem Stock aufgeschreckt hatte. Dabei ergab es sich, dass ich ganz dicht an dem alten Mann, den ich zunächst nicht gesehen hatte, vorbeirannte und ihn erst in diesem Moment bemerkte.

Dem Gewissenskonflikt, der dabei in Sekunden entstand, war ich damals nicht gewachsen. Wohlwissend, dass ich mich hätte stellen müssen, rannte ich trotzdem weiter den Hof hinab und folgte den Anderen auf die Straße, um nachhause zu eilen.

Noch beim gemeinsamen Abendbrot mit den Eltern und der Schwester, wie auch beim Einschlafen später, schlug mir dann das Gewissen, so dass ich am liebsten den Vorfall hätte ungeschehen machen wollen. Doch nachdem in den folgenden zwei Tagen nichts weiter geschehen war, hatte ich das peinliche Ereignis schon wieder vergessen, als mich die Mutter zur Seite nahm, mit ernstem Gesicht und der Bemerkung, sie hätte etwas mit mir zu besprechen.

Da ich dieses Verhalten der Mutter nur zu gut kannte, schwante mir nichts Gutes und schon im Gehen dachte ich angestrengt nach, um herauszufinden, was ich wohl angestellt haben konnte.

„Hör mal, der Großvater hat euch doch neulich wieder mal erwischt, als ihr in der Scheune gespielt habt, stimmt’s?!“

Da Leugnen zwecklos war, brachte ich denn ein kleinlautes „Ja“ hervor, gleichzeitig schon erleichtert, weil das Besagte ja nun nicht gerade zu den ganz schlimmen Vergehen zählte.

Geduldig harrte ich also der Strafrede, während die Mutter mich ernst und gleichzeitig ungewohnt traurig ansah. Doch es war nicht der verbotene Aufenthalt in der Scheune, sondern etwas ganz anderes, was die Frau mir nun begann vorzuwerfen:

„Wie konntest du nur so unhöflich und respektlos sein, am Großvater vorbei zu rennen, ohne ein Wort des Grußes zu sagen, ohne ihn überhaupt zu beachten! So etwas tut man nicht und das hat er auch nicht verdient! Er hat dich lieb und tut so viel für dich!“

Nun erwachten natürlich mit der Erinnerung die alten Gewissensbisse in mir und ich war mir meiner Schuld bewusst, als ich vor der Mutter stand und beschämt zu Boden blickte.

„Du gehst heute noch hin zu ihm und entschuldigst dich!“

„Gleich nach den Hausaufgaben!“ fügte sie noch im Weggehen hinzu.

Mit dieser Strafe hatte ich nicht gerechnet, bedeutete sie doch für den kindlichen Stolz eine schwere Herausforderung. Doch war es weniger der Mut, den eine Entschuldigung beim alten Mann erforderte, als vielmehr die dafür nötige Demut. Ziemlich zerknirscht von dieser Unterredung machte ich mich denn auf den schweren Weg, gleich nachdem die Hausaufgaben erledigt waren. An diesem Tag hätte ich mir gewünscht, es wären noch viel mehr Aufgaben gewesen.

Erheblich langsameren Schrittes als üblich erreichte ich das Anwesen der Großeltern und stieg widerstrebend die alte Holztreppe hinauf, um schließlich vor dem Großvater zu stehen, mit rotem Kopf und klopfendem Herzen.

Nach einem artigen Gruß kam erst mal nichts mehr aus mir heraus. Erwartungsvoll schaute mir der alte Mann in die Augen, so dass ich beschämt seinem Blick auswich.

Nach einer peinlichen Pause schließlich begann ich stotternd:

„Opa, du weißt doch, neulich… bitte entschuldige…“ ich wusste nicht weiter, doch der Angesprochene kam mir nicht einen Schritt entgegen, sondern fixierte mich nach wie vor mit seinen fast zugekniffenen, alten Augen.

„Was soll ich denn entschuldigen?“ Es musste also ausgesprochen werden:

„Na ja, weil ich doch nicht Grüß Gott zu dir gesagt habe und einfach weggerannt bin…“

Nun war es also heraus. Waren die Gesichtszüge des Greises eben noch in traurigem Ernst verharrt gewesen, so blühten sie nun zu dem gewohnten, liebevollen Lächeln auf und gingen langsam in ein zufriedenes Grinsen über.

Es war eine tiefe Erleichterung, die ich empfand. Im selben Moment erkannte ich zum ersten Mal die erhabene Würde dieses alten Mannes und gleichzeitig, wie viel er mir doch bedeutete. Nie hatte ich darüber nachgedacht. Der Opa war einfach da gewesen mit seiner Liebenswürdigkeit und seinem freundlichen Grinsen. Mit einem Male hatte ich erkannt, wie sehr dieser Mensch mich doch liebte und ich ihn.

Die Scham, die mit dieser Erkenntnis in mir erwuchs, trieb mir die Tränen ins kindliche Gesicht.

Er saß in seinem Stuhl mit Armlehnen und ich eilte zu ihm hin, um ihn ganz fest zu umarmen und mich an ihn zu klammern.

Aus all dem wurde danach noch ein schöner und unvergesslicher Nachmittag mit dem Großvater. Wir gingen in den alten Bauerngarten, setzten uns in die mit Wildrosen umrankte Laube, die er selber gezimmert hatte.

Die Frühäpfel hatten begonnen zu reifen. Mit großem Genuss aß ich einen, während der Großvater Geschichten von früher erzählte.

Darunter waren wie immer auch Lügenschichten, die so unglaublich klangen, dass ich ihn schließlich unterbrach und wir beide laut zu lachen begannen. Ein Spielchen, das der Opa oft mit mir trieb und an das ich mich mit großem Vergnügen erinnere.

 

 

 

 

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