Es muss wohl Mitte der 1960er Jahre gewesen sein, als ich eine Begegnung hatte, die so tief in der Seele gewirkt haben muss, dass sie mich ein ganzes Leben begleiten konnte, obschon sie nur wenige Sekunden gedauert und am Lauf meines Lebens nichts verändert hat.
Wir waren damals fünfzehn- oder sechzehnjährige Halbwüchsige, mein Freund Joachim und ich, und voller Tatendrang, die Welt zu erobern. Unsere Freundschaft war und ist auch noch heute eine jener erstaunlich dauerhaften und alle Unbilden überlebenden Beziehungen zwischen zwei Menschen, etwas, das man auch als „beste Freundschaft“ zu bezeichnen pflegt.
Wir konnten nicht unterschiedlicher sein, sind es auch immer noch und doch ist da etwas, das uns aneinander gebunden hat über all die Jahre. Oft habe ich darüber nachgedacht, doch ist mir nie aufgegangen, was es wohl sein könnte.
Mitten im Sommer und in den Schulferien entschlossen wir uns, wieder einmal zu beweisen, welch Pfundskerle wir doch waren und stellten uns dazu einer besonderen Herausforderung. Es war das erste Mal, dass wir uns so zu einer solch besonders aufregenden Sache verschworen und es sollten in den folgenden Jahrzehnten noch etliche folgen.
Mit unseren alten Fahrrädern wollten wir eine Fahrt von Calw nach Mindelheim im Allgäu, zu meinen Großeltern, an einem Tag schaffen. Nun sind das runde zweihundert Kilometer und es galt dabei die Schwäbische Alb zu überwinden.
Mit der Gewissheit, das schier Unmögliche zu schaffen, machten wir uns eines Morgens, kurz nach Tagesanbruch gegen fünf Uhr auf den langen Weg. Dieser führte uns zunächst durch den Schönbuch, dann über Bad Urach und die Ulmer Steige hinauf auf die Alb und über Blaubeuren an Ulm vorbei nach Memmingen.
Mitten in der Nacht, gegen zwei Uhr, kamen wir schließlich völlig abgekämpft beim Haus der Großeltern an und nachdem wir die Großmutter durch Klopfen am Schlafzimmerfenster hochgeschreckt hatten, fanden wir endlich die dringend nötige Erholung in einem langen und tiefen Schlaf.
Mit bewunderndem Erstaunen erinnere ich mich heute, im fortgeschrittenen Alter, daran, dass wir schon am nächsten Vormittag
mit der unerschütterlichen Beständigkeit der Jugend wieder zu Fuß unterwegs waren, um die Mindelheimer Innerstadt zu erkunden.
Bald hatten wir den Kern der Frundsberg-Stadt erreicht und bestaunten das prächtige und gut erhaltene Stadttor, als ein vielstimmiges Lachen und Scherzen, das sich aus einer Seitenstraße näherte, unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Verursacht wurde es von einer Gruppe von um die zwanzig jungen Mädchen, die
wohl etwa unseres Alters und auf dem Weg in ein Café auf der anderen Straßenseite waren.
Als die Gesellschaft nahe genug war, konnten wir vernehmen, dass die jungen Damen französisch sprachen.
Von einem Ohr zum anderen grinsend müssen wir beide wohl da gestanden haben und die Stadt mit ihren prächtigen Fassaden war in dem Moment völlig verblasst in unserem Interesse. Natürlich blieb es nicht aus, dass sich Blicke trafen und mit großer Genugtuung lauschten wir dem daraus resultierenden Kichern und Tuscheln der fröhlichen Truppe.
In dem Moment geschah es: Eine der Französinnen schaute mich einen Moment lang an und in ihrem Gesicht schien sich dabei ein schüchternes, fast beschämtes Lächeln anzudeuten. Trotz der Entfernung und den vielen anderen Gesichtern gab es für mich zu keiner Zeit einen Moment des Zweifels, dass dieser Blick mir galt, denn er schien etwas ganz Besonderes zu transportieren, traf mich bis in den Grund meiner Seele.
Nur dieser halben Sekunde bedurfte es, um mir diesen Augenblick für immer ins Gedächtnis zu brennen, das lange, schwarze Haar, das seidig in der frühen Mittagssonne glänzte, die markante Nase, die dem schmalen Gesicht einen ganz besonderen Ausdruck verlieh, die zart geschwungenen Lippen und diese grazile Schönheit, die durch zwei große, dunkle Augen zu einer unglaublichen Perfektion gekrönt wurde. Jedes Detail, der Glanz in den bezaubernden Augen und das zu erahnende Lächeln einer Mona Lisa auf den Lippen sind mir noch immer präsent, als wäre diese Begegnung gerade erst geschehen.
Der eine kurze Blick löste in mir damals einen mir bis dahin ungekannten Aufruhr an Empfindungen und Gefühlen aus, ließ mich wie gelähmt dastehen und mit feuchten Augen dem Mädchen hinterher starren.
Die Gruppe verschwand im Eingang des Kaffeehauses und ich kam erst wieder zu klaren Gedanken, als mich Joachim am Arm packte, um zu verhindern, dass ich wie in Trance der Gesellschaft ins Innere der Konditorei folgte.
„Was ist los mit dir? Was willst du denn da drin? Wir haben doch eh fast kein Geld!“ herrschte er mich an und brachte mich wieder zur Besinnung.
„Hast du dich da eben in eine der Schönheiten verguckt?“ fügte er grinsend hinzu.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis das Erlebte mich losließ und lange musste ich immer wieder an das hübsche Mädchen mit dem seidenfeinen, blau schimmernden Kleid denken.
Auch Jahre, die vergingen, konnten den Vorfall nicht aus dem Gedächtnis verbannen, zu tief hatte sich das Erlebte in die Seele eingegraben.
Es waren auch schon einige Jahre vergangen und ich erinnerte mich nur noch ab und zu an das, was im Nachhinein wie ein wundervoller Traum anmutet, als ich, aus welchem Grund auch immer, das alte, lederne Fotoalbum der Eltern durchblätterte, um mir die vergilbten Bilder aus Tagen, die vor meiner Zeit lagen, wieder einmal zu betrachten.
Dabei stieß ich auf eine Aufnahme, die meine Mutter in zartem Alter bei der Erstkommunion zeigt, etwas beschämt lächelnd, das bekränzte Haupt ganz leicht gesenkt, in der einen Hand das Gesangbuch, in der linken die prächtig geschmückte Kommunionskerze.
Es ging ein Schaudern durch mich, als ich das junge Gesicht genau ansah. Schmal und zierlich war es, mit markanter, aber hübscher Nase, anmutig zart geschwungenen Lippen und faszinierenden, großen, dunklen Augen.
Als ich fast entsetzt und doch gleichzeitig wundersam berührt das Album schloss und die Lider auf meine nassen Augen senkte, entwich mir eine Träne und ich blieb noch eine ganze Weile, auf das Album starrend, tief gerührt sitzen.
Eigenartig, dass ich es nie fertig brachte, meiner Mutter von diesem seltsamen Geschehen zu erzählen. Inzwischen ist es längst zu spät dafür.