Verloren

 

Das Geschrei des kranken Kindes aus dem Zelt nebenan nagte heute besonders an ihren überstrapazierten Nerven. Es war eine kalte Nacht gewesen und das Erwachen mit Frösteln war erbarmungslos unangenehm. In ihren Gedanken schwelten die immer gleichen Fragen hin und her: Woher bekomme ich Wasser? Wo finde ich für die Kleine und mich heute etwas zum Essen?

Ihre dreijährige Tochter schlummerte noch; der Hunger hatte sie in den Schlaf gezwungen, eingewickelt in die Hoffnungslosigkeit des Lagers.

Die junge Frau setzte sich, die Beine überkreuzt, auf den feuchten Boden und versank langsam in ihre immer düsterere Vergangenheit, die ihr wie jeden Tag aufs Neue unter das lange, schwarze Gewand in ihre Nikab zu kriechen begann.

Da war so viel Euphorie und Begeisterung gewesen, so viel Überzeugung, dass sie bereit war, alles aufzugeben. Und was war das schon, was sie aufgab? Familie? Der Vater, abgetaucht ins Selbstmitleid seiner Krise, die Mutter in eine eigene Welt geflüchtet. Warum war da immer öfter nur noch das Gefühl gewesen, überflüssig und im Weg zu sein?!

Wie befreiend und mitreißend war dagegen doch die Botschaft vom wahren Glauben und dem Gewollt- und Gebrauchtsein in der neuen Gemeinschaft gewesen! Dazu zu gehören und dieser gewaltige Reiz des Abenteuers, der in der Seele brannte.

Und wie ernüchternd war schließlich die Realität. Der Mann an ihrer Seite, der sich mehr und mehr zum egoistischen, vergewaltigenden Monster verzerrte. Am Ende war da kein Schmerz mehr, als er nicht wieder kam.  Das Leben in der verheißenen Gemeinschaft der Rechtgläubigen Helden entpuppte sich als Gefängnis und überall lauerten grinsend das Unheil und der Tod.

Ein glücklicher Zufall, dass ihr lebend mit der Tochter die Flucht von einer Hölle in die andere gelungen war. Und nun saß sie da, frierend, hungrig und ohne Zukunft.

Wo würden ihre Richter auf sie warten? Hier in der abweisenden Fremde oder in der einstigen Heimat, die unerreichbar geworden schien?

Wieder einmal begann sie, nach ihrer Schuld zu suchen. War es ihre Naivität, ihr Unwissen oder die Liebe zu ihrem Mann, der sie in die Arme des IS führte. War es die Treue zu ihrer enttäuschten Liebe, die sie Seite an Seite mit ihrem Mann für den Staat und den Dschihad arbeiten ließ? War das ihre Schuld?

Wie so oft kamen die Bilder von damals in ihr Gedächtnis. Die Familie, die doch so etwas wie ein Zuhause und Sicherheit bot, die Freundinnen, die Schule und später die Lehre – es war nicht das Paradies, aber es war ein Leben.

Sie erinnerte sich an die Gefühle des Verliebtseins und ihre Seele erschien ihr dabei nun wie eine Wildnis, ein Gestrüpp aus romantischen Empfindungen, Scham, Schuld und Enttäuschungen zugleich. Und wieder war da die nagende Sehnsucht, die ihr wie eine makellose Blüte erschien. So gern hätte sie diese Schönheit in die Wildnis ihrer Seele gepflanzt – vielleicht als glänzenden Lichtblick eines Neubeginns.

Ihre Tochter erwachte und begann ihren Tag mit einem hoffnungslosen Wimmern, das die Mutter aus ihren Träumen in die erbarmungslose Wirklichkeit zurück brachte.

Fast gleichzeitig kam ihre Zeltgenossin mit deren beiden Kindern zurück von der Nahrungsausgabe. Viel hatte sie nicht ergattern können.  Die Schicksalsgenossin erzählte von einer Gruppe von Männern, begleitet von Soldaten, die durch das Lager ging und hier und da in die Tuchhütten schaute. Vielleicht eine Chance? Die beiden Frauen blickten sich fragend an. Dann stand die eine spontan auf, nahm ihre Tochter auf den Arm und verließ das Zelt.

Sie begann, in den Reihen zwischen den Notbehausungen zu suchen. Nach einer Weile wurde sie fündig und eilte der Männergruppe entgegen.

„Bitte – bitte  helfen Sie mir – please help me!“

Sie versuchte dabei, sich den Männern zu nähern. Diese jedoch machten eindeutige Abwehrgesten mit den Händen und die Soldaten traten einen Schritt nach vorn und griffen demonstrativ nach ihren Waffen.

Verzweifelt versuchte sie es noch mit ihren spärlichen Arabischkenntnissen, doch auch das war vergeblich. Man konnte oder wollte sie nicht verstehen oder anhören.

Auf dem Weg zurück zur Unterkunft versank sie in die schon gewohnte Leere ihrer Hoffnungslosigkeit zurück.

Die Gedanken an das frühere Zuhause, an Deutschland, waren eingebettet in eine Mischung aus Gefühlen der Sehnsucht, Scham und Schuld. Sie war sich sicher, dass man sich noch verlorener nicht fühlen konnte.

„Wir haben doch eine zweite Chance verdient! – “ sagte sie später zur Leidensgenossin und nach einer Minute des Schweigens:

„und unsere Kinder, sie hatten doch noch gar keine Chance, das muss man doch erkennen!“

„Man will uns nicht mehr haben zuhause, man hält uns für gefährlich.“ sagte die andere und nach einer Pause:

„Bleibt da, wo ihr hingegangen seid, so wird man sagen.“ Sie presste ihr Kleinstes an die Brust und begann zu weinen.

Draußen quälte sich der schier endlose Tag des Wartens durch die Zeltreihen, als wäre er angekettet an die Last der Ausweglosigkeit. Das Weinen im Nachbarzelt hatte aufgehört. Von der fernen Stadt drang der Ruf eines Muezzins, wie manches Mal, wenn der Wind von Westen her weht…

 

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