Die überwundene Abscheu

Sehr vielfältig können menschliche Schicksale miteinander verknüpft sein, mitunter auch die von Mensch und Tier.

Nie konnte ich die oft heftig ausgeprägten Abneigungen mancher Leute gegen Schlangen oder Amphibien verstehen, wie auch gegen verschiedenerlei Insekten. Eine besondere Stellung scheinen dabei die Spinnen einzunehmen.

Hierzu will ich eine schier unglaubliche Geschichte erzählen, die sich Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhundert ereignet haben soll.

Es war im Frühsommer und die Heuernte war in vollem Gange, als am Morgen der Bauer die hakenförmigen Eiswolken am Himmel entdeckte und beschloss, das Einfahren des Heus doch noch einmal zu verschieben, da einerseits eine Gewitterfront aufzuziehen schien und andererseits das gemähte Gras noch nicht trocken genug war, um ohne Brandgefahr in der Scheune eingelagert werden zu können.

Nachdem die Tiere versorgt waren, machten sich die Bäuerin, ihr Mann, der Knecht und die beiden Kinder auf den Weg hinaus auf die beiden großen Wiesen, die zum Hof gehörten und vor zwei Tagen gemäht worden waren. Das Heu musste nochmals gewendet und dann auf Haufen geschichtet werden, damit es, so gut man es eben auf diese Weise konnte, vor Regen geschützt war.

Die Gewitterfront zog jedoch schneller als erwartet auf und so musste schon die Mittagspause mit Brotzeit und Most im Schatten eines großen Apfelbaumes

kürzer als gewöhnlich ausfallen.

Nachdem es mit Heugabeln gewendet worden war, musste das künftige Winterfutter nun in Wälle zusammengerecht werden.

Danach teilte sich die Gruppe auf; während die Frau mit einem der Kinder zurückblieb und  die Heustöße aufschichtete, eilte die restliche Familie zur anderen Wiese, die deutlich näher am Zuhause lag, um auch dort dieselben Arbeiten vorzunehmen.

Die Wetterlage wurde immer bedrohlicher. Gewaltige Wolkenberge hatten sich im Westen aufgetürmt, gleißend weiß im Sonnenlicht an der Oberseite, wo sie bis weit in den Himmel hinauf ragten und beängstigend blauschwarz an ihrer schattigen Unterseite. Bald schon war die Sonne von der herannahenden Wolkenwand verschluckt und es wurde deutlich dunkler.

Die Bäuerin schickte ihr Kind voraus; es sollte sich den Anderen anschließen, während sie selber noch in Eile das lose Heu zwischen den Haufen zusammenrechen wollte.

Es war unheimlich still geworden, kein Vogel war mehr zu hören und die Schwüle lag bewegungslos auf der Szenerie.

Inzwischen gab es kein Blau mehr am Himmel und am westlichen Horizont hatten die Wolken einen grünlich gelben Schimmer angenommen. Vom Dorf her klang kaum vernehmbar das nachmittägliche Gebetsläuten vom Kirchturm herüber; es war vier Uhr geworden.

Die Frau arbeitete fieberhaft weiter, schweißgebadet und mit ängstlich klopfendem Herzen. Schon mehrmals hatte sie fernes Donnern vernommen und ihr war inzwischen bewusst, dass sie nicht mehr trocken nachhause kommen würde. Doch kannte sie ganz in der Nähe einen Unterstand. Ein kleines Häuschen, das der Schwieger- und Großvater aus Holzbrettern und Kanthölzern gezimmert hatte.

Der Innenraum, nach oben geschützt durch ein Dach aus flachen Ziegeln, die man Biberschwänze nannte, maß gerade mal zwei Schritte in beide Richtungen und hatte keine Fenster, nur eine Tür. Innen gab es ein schmales Brett auf vier Holzpflöcken als Sitzgelegenheit.

Dieses winzige Häuschen, das am oberen Ende der abschüssigen Wiese auf einer langgezogenen Anhöhe neben einem großen, alten Wildkirschenbaum stand, diente nicht nur als Unterstand, sondern oft auch dazu, Rechen, Gabeln und anderes Geschirr für die Arbeiten am folgenden Tag aufzubewahren.

Dorthin also hatte sich die verängstigte Bauersfrau inzwischen hastig auf den Weg gemacht, nachdem sie bereits einen jener riesigen Regentropfen gespürt hatte, die oft am Anfang eines Unwetters vom Himmel fallen und einen Wolkenbruch ankündigen.

Schwer atmend, Rechen und Gabel über der Schulter, das abgenommene Kopftuch in der anderen Hand, haste die Frau den Hang hinauf.

Es war inzwischen so düster wie am späten Abend geworden und erste Sturmböen peitschten den beginnenden Regen schier waagrecht durch die Gewitterschwüle.

Endlich erreichte sie das Häuschen und trat ein, froh, doch noch nicht völlig durchnässt zu sein.

Die Erschöpfte ließ die Brettertür offenstehen, damit es nicht stockfinster in dem engen Raum war.

Immer wieder zuckte das gleißende Licht eines Blitzes in das dunkle Innere des kleinen Schuppens hinein und immer schneller folgte dem Hell ein furchterregender Donnerschlag. Das Unwetter musste beinahe genau über dem Unterstand sein. Der schwere Regen trommelte auf das Ziegeldach und immer öfter erschrak die Frau durch den Knall, den einzelne Hagelkörner auf den Biberschwänzen verursachten.

Sie saß ängstlich zitternd, zusammengekauert mit gekrümmten Rücken, die  gefalteten Hände im Schoß, auf dem Sitzbrett und harrte des Unheils, das wohl noch auf sie hereinbrechen würde an diesem Unglücksachmittag.

Inzwischen prasselte der Hagel in kirchgroßen Eiskugeln herunter. Ein Höllenlärm, in dem das Gebet der Verzweifelten unterging. Doch betete sie nicht nur um ihr eigenes Entkommen, sondern bat zuerst auch darum, dass die Angehörigen noch rechtzeitig Haus und Hof erreicht haben mögen. Dabei schaute sie für einen Moment flehend in Richtung Himmel.

Genau in diesem Moment erhellte ein greller Blitz das Innere der Hütte, nachdem eine Sturmbö die Tür vollends aufgerissen hatte. Im Blick zum Ziegeldach hinauf sah die Frau zu ihrem vollendeten Entsetzen im Blitzlicht und unter dem Eindruck des gleichzeitigen Donnerknalls eine große, dicke Spinne genau über sich in ihrem Netz sitzen.

Als hätte sie den Verstand verloren rannte die Erschreckte ins Unwetter hinaus. Ihre unkontrollierbare Angst und der Ekel vor Spinnen trieb die sie in die Flucht.

Gott sei Dank hatte es schon wieder aufgehört zu hageln. Nur noch einzelne Eiskörner fielen herab, doch war die Flüchtende nun schon nach ein paar Schritten völlig durchnässt auf ihrem Weg durch den Platzregen.

Die entsetzte Frau musste wohl fünfzig Schritte gerannt gewesen sein, als sie im gleichzeitigen Donnerkrach eines erneuten Blitzes zusammenzuckte. Ein unbekanntes Geräusch ließ sie innehalten und sich umschauen und als sie hinter sich blickte, blieb sie in erneutem Erschaudern wie erstarrt stehen.

Der Blitz hatte hinter ihrem Rücken in den alten Kirschbaum eingeschlagen und diesen in zwei ungleiche Teile zerrissen. Darunter stand das kleine Häuschen in hellen Flammen.

Auf ihrem Heimweg spürte sie den Regen nicht mehr. Mit einer seltsamen, inneren Leere eilte die Erschöpfte den Berg hinunter und dem Dorf entgegen.

Ganz langsam kamen ihre Gedanken zurück, zunächst noch zu wirr, um sich mit dem Gesehenen auseinander setzen zu können. Doch je näher sie dem Zuhause kam, desto klarer hatte sie die Ereignisse wieder vor Augen.

 

Über die Maßen erleichtert empfingen die besorgten Angehörigen die durchnässte und abgehetzte Bäuerin daheim und mit vor Entsetzen geweiteten Augen vernahmen sie, was der Frau widerfahren war.

Das Gewitter war inzwischen weitergezogen und der Regen hatte aufgehört. Aus dem nahen Flusstal stiegen Nebelschwaden zum Wald herauf und schienen sich in den Tannen und Buchen zu verfangen.

Ein kühler Wind war aufgekommen und die gereinigte Luft roch nach Regen und Erfrischung.

Wie auch immer, das Leben ging weiter. Die Tiere mussten versorg werden vor dem Abendbrot.

 

Es waren schon ein, zwei Tage vergangen, als die Bauersfrau gerade aus der Futterkammer kam und beim Betreten des Stalls schräg über sich eine große Spinne im grauen Netz entdeckte.

Wie gewöhnlich blieb die Bäuerin schockiert stehen und starrte zu dem haarigen Achtfüßler hinauf. Ganz langsam aber wandelten sich ihre entsetzten Gesichtszüge in Entspannung. Eine kleine Weile schaute sie noch hin zu dem Tierchen, dann fuhr sich mit ihrer Arbeit fort, als sei nichts gewesen, doch mit einem vielsagenden, kaum erkennbaren Lächeln um die Lippen.

Eine Spinne totgeschlagen oder auch nur vertrieben hat die Frau nie wieder, so sagt man.

 

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