Der Ungast

 

Der Ungast

 

 

Es war ein unglaublich intensives Wohlgefühl des Erholtseins, das ich beim Erwachen verspürte. Ein Blick auf den alten Schepper-Wecker auf dem Nachttisch zauberte mir ein Lächeln auf das verschlafene Gesicht: 12:20 Uhr. Obwohl ich schon vor Mitternacht im Bett gewesen war, gab es nicht die Spur eines Erschreckens ob des verschlafenen Morgens.

Warum? Nun, genau das will ich hier erzählen. Zuvor erscheint es mir wichtig, zu erwähnen, welch eigenartiges Gefühl mich im Augenblick des Erwachens ergriff. Es war fast, als erwachte ich aus einer tiefen Ohnmacht und als langsam die Erinnerungen an die vergangenen Tage aufstiegen, erschienen sie mir fremdartig, wie aus einem anderen Leben. Ich wollte gar nicht glauben, welch sonderbare Ereignisse da ins Licht des Bewusstseins zurückkamen.

Doch eines nach dem anderen. Das Geschehene handelt von einem Gast meines Hauses, einem langjährigen Freund, der bereits zweimal in den vergangenen Jahren mein Gastgeber gewesen war und sich nun mehr oder weniger selbst eingeladen hatte, endlich einmal mich mit seiner Gegenwart zu beglücken.

So richtig war es mir nicht nach diesem Besuch gewesen, doch ich wollte nicht unhöflich sein und setzte noch einen drauf, indem ich vorgab, mich sehr auf seine Gesellschaft in meinem Hause zu freuen.

Mit gemischten Gefühlen sah ich also diese Tage auf mich zukommen und wie es im Leben nun mal nicht selten so geht, legte ich mir, ohne es zu wollen, noch rechtzeitig ein paar Steine in den Weg, indem ich mich einige Tage davor durch meine schwäbische Sparsamkeit mit Pfifferlingen vergiftete, die eigentlich nach einer Woche im Kühlschrank eher in den Müll, als in meinen Magen gehörten.

Der heftigste Durchfall, an den ich mich überhaupt erinnern kann, fesselte mich in der Nacht vom Freitag auf den Samstag vor dem am Mittwoch erwarteten Besuch an meinen Sessel im Schlafzimmer. Mich hinzulegen und zu schlafen traute ich mich in jener Nacht nicht und so war auch nicht wirklich an Schlaf zu denken gewesen.

Am darauffolgenden Tag versuchte ich dann, das Unglück mit etwa drei Litern Kamillentee aus meinem Verdauungstrakt zu spülen.

Den Sonntag erlebte ich dann mit einer bis dahin ungekannten Aversion gegen alle Nahrung, so dass es mir nicht schwerfiel, Montag und Dienstag zum Segen gegen mein Übergewicht ebenfalls zu fasten.

Um ihm die Möglichkeit, es sich doch noch anders zu überlegen, nicht zu nehmen, hatte ich mich beim erwarteten Gast wochenlang nicht mehr gemeldet. Am Vorabend des Besuches war ich dann schon fast sicher, er würde doch nicht kommen. Doch ein Telefonanruf mit der schweizerischen Vorwahl zerstörte diese Hoffnung noch rechtzeitig vor der Gewissheit.

Vor Enttäuschung war ich nicht in der Lage, den Hörer abzunehmen. Ich wartete lieber auf die mit Sicherheit anstehende Nachricht auf dem Anrufbeantworter:

„Hast du vergessen, dass ich morgen kommen werde? Ich erwarte deine Nachricht bis spätestens morgen um neun Uhr.“ Punkt!

Ich glaube es ist Zeit, dass ich an dieser Stelle etwas über meinen erwarteten Gast sage:

Es handelt sich um einen Grundschullehrer, Anfang fünfzig und von ausgesprochen adipöser Gestalt mit langem, graumeliertem, aber gepflegtem Vollbart. Die Art sich zu kleiden und zu behängen verriet sein Bestreben, aus welchem Grund auch immer, wie ein Rocker zu wirken.

Die großen Leidenschaften, denen er frönte, waren einmal Dinge, die mit Mord und Totschlag zu tun hatten, also Dolche Schusswaffen, Schwerter, Kanonen und Burgen und Panzer und des Weiteren die Lyrik, möglicherweise sogar an erster Stelle.

Er war selber ein begnadeter Dichter und sah sich auch in Augenhöhe mit den großen Meistern. Ich selber empfand sein Wirken eher ausgesprochen eingleisig und auf irgendeine Weise beinahe seelenlos. Irgendwie waren seine Gedichte auf eine ermüdende Art gleichartig und so meisterlich gesponnen, dass man ihren Ursprung eher in einer Software als in des Autors Herzen vermutete.

Sein Spott, den er allen glaubenden Artgenossen angedeihen ließ, war oft genug beleidigend; für ihn war Rilke der Gottvater des Universums und seine Frömmigkeit ging so weit, dass er ab und an sogar behauptete, sein Vorbild habe die Texte mit der gleichen sprachlichen Pedanterie verfasst wie er selber das zu tun pflegte.

Völlig vereinsamt lebte er in seinem kleinen Haus am Ortsende, um nicht zu sagen am Ende der Welt und sah sich in seinem Kinderhass einem schrecklichen, beruflichen Schicksal ausgeliefert.

 

Nun, am Vorabend seines Besuches in meinem Hause antwortete ich dem Freund per E-Mail und versuchte, ihm zu verstehen zu geben, das er es ja war, der mich besuchen wolle und ich also seine Nachricht erwartet hatte. Gleichzeitig sah ich meine Chance, ihn durch ein paar Schreckensdetails doch noch von seinem Vorhaben abzubringen. Also schrieb ich von einem bestehenden, fiebrigen Magen-Darm-Infekt und der Unmöglichkeit, ihn zu verpflegen, da ich selber nichts zu mir nehmen könne. Auch berichtete ich von meinem körperlichen Erschöpfungszustand nach den schlaflosen Nächten.

Die Antwort kam prompt und knapp: „Ich erwarte einen Zustandsbericht morgen um 9 Uhr und entscheide dann über mein Kommen.“

Damit gab ich mich erst mal zufrieden und wiegte mich in der täuschenden Hoffnung, die bevorstehenden Unbilden noch abwenden zu können.

In der darauffolgenden Nacht versuchte ich, einmal wieder richtig durchzuschlafen. Um sechs klingelte jedoch das Telefon. Die schweizer Nummer hielt mich davon ab, den Anruf, wie auch den um sieben, anzunehmen. Stattdessen gab ich in einer E-Mail wie vereinbart um neun bekannt, dass sich an meinem Zustand nichts Wesentliches geändert habe. Schon in trügerische Sicherheit gewiegt, wollte ich mich gerade daran machen, ein vorsichtiges Frühstück vorzubereiten, als die Antwort eintraf:

„Okay, ich fahr jetzt los.“

Danach war mir nicht mehr nach einem Frühstück und es blieb mir nichts, als mich in mein Schicksal zu fügen. Ich machte den Reiseentschlossenen dann doch noch schnell darauf aufmerksam, dass ich am Mittag ein paar Stunden Schlaf nachholen wolle. Er sollte sich also ruhig Zeit lassen und ich würde ihn nicht vor vier erwarten.

Punkt vier stand er auf der Matte.

„Ich wollte Dir eigentlich einen Wein mitbringen, aber Du bist ja sicher auf Diät…“

Nicht dass ich ein Gastgeschenk erwartet hätte, mit so einem doofen Spruch hatte ich allerdings auch nicht gerechnet.

Nachdem er gegen meine Bitte die Schuhe abgelegt hatte, marschierte er mit ekelhaft stinkenden Socken auf meinen Teppichen herum und durchstöberte die ganze Wohnung. Das wäre ja nun nicht weiter schlimm gewesen, wenn auch etwas unflätig, wenn er nicht an mehreren Stellen Staub beanstandet hätte, zudem unter Anderem an einem Windspiel ein fehlendes Glöckchen, an einem zweiten ein Markenschild des Herstellers, dann auch Spinnweben und ein kleines Stück Klebeband an einem Balken im Wintergarten, ganz zu schweigen von einen Sprung in den Fliesen des Wintergartenbodens. Er rügte all das immer wieder mit den Worten: „Das würde mich völlig verrückt machen.“

Solche Bemerkungen, mit denen er mir zu verstehen geben wollte, was für ein Dreckferkel ich doch bin, streute er die ganze Zeit seines Aufenthaltes immer wieder ein. Was immer nicht seinem Geschmack entsprach, wurde mit abfälligen Bemerkungen bedacht.

Sobald ich etwas in die Hand nahm, erwähnte oder auch nur anschaute, begann der Oberlehrer sofort zu referieren und mir zu erklären, wo es herkam und wie es entstanden war und funktionierte, und das auch dann, wenn er keine Ahnung davon hatte.

Auffällig war auch, dass vorwiegend er sprach und wann immer er mir eine Gelegenheit bot, auch einmal was zu sagen oder zu erzählen, dann begann er umgehend, durch Grimassen und Verrenkungen auf seine Rückenprobleme aufmerksam zu machen oder durch ein brutal offensichtliches Verhalten zu signalisieren, wie unwichtig, nutzlos und langweilig ihm das erscheint, was der Andere von sich gibt. Zu diesen Verhaltensweisen gehörte z.B. Gähnen, sich intensiv mit irgendeinem Gegenstand zu beschäftigen und womöglich dabei leise zu pfeifen, grad so, als hätte er mit dem Gegenüber gar nichts zu tun. Dabei war dann auch stets lautes Schniefen und Grunzen zu hören, um ja die Aufmerksamkeit nicht zu sehr beim Redner zu belassen.

Ich kannte dieses Verhalten bereits von meinen Besuchen bei ihm und war damals immer wieder entsetzt gewesen, wenn er sogar in der sensiblen Stimmung von Gedichte-Lesungen diese beleidigenden Verhaltensweisen an den Tag legte, sobald ein Anderer als er mit Lesen dran war.

Dazu passt auch, dass er auffälliger Weise meist nicht lachte, wenn in einer Runde jemand einen Witz machte. Oft pflegte er so einen gelungenen Spaß mit Ignoranz zu strafen, wohl da dieser den Erzähler in den Mittelpunkt des Interesses brachte. Über eigene Witze lachte er meist selbst am lauteten und längsten, auch dann, wenn er der einzige Lacher blieb.

Dieser Mensch lebte in dem Wahn, alles zu wissen, zumindest aber besser, und Andere, die auch nur vielleicht mehr wissen könnten als er, scheinen ihm unerträglich zu sein.

So ein Verhalten verunsichert einen natürlich, da man immer im Unklaren ist, ob das denn nun stimmt, was er vorträgt und weiß. Nach einigen Belehrungen über Dinge, bei denen ich mich besser auskenne, merkte ich dann aber bald, was für einen Unsinn er da teilweise von sich gab. Sagen konnte ich natürlich nichts – um Gottes Willen nein! So ließ ich halt alles über mich ergehen und nickte hin und wieder ab, bis es mir endlich gelang, ihn zum Marsch zur „Linde“, einer nahen, Gaststätte, zu bewegen. Er hatte sich zwar unmittelbar vor seinem Eintreffen noch schnell die Wampe bei McDonalds vollgeschlagen, der Hunger war aber schon gegen sechs wieder groß genug.

Zu diesem Zeitpunkt war ich eigentlich schon fix und fertig, allein schon durch seine Art und Weise, sich im Haus breit zu machen. Als ich ihm etwas zum Trinken anbot, trug er nur noch ein Unterhemd und abgelebte Leggings und war auf nackten Stinkfüßen unterwegs, obwohl er Pantoffeln dabei hatte.

Aus meiner Palette von angebotenen Getränken begeisterte er sich für Holundersaft. Also öffnete ich eine Flasche Sirup und er mischte sich eine Limonade. Nach einem Schluck:

„Das ist kein Holundersaft, das schmeckt grauenhaft. Das kann ich nicht trinken.“

Da ich die Beeren höchstpersönlich geerntet und verarbeitet hatte, wagte ich es nun doch einmal, zu widersprechen. Als er gemerkt hatte, dass er im Unrecht war, wiegelte er mit den Worten ab:

„Ich hatte ja auch Holunderblütensaft gemeint.“

Nach meiner Antwort, ich habe noch nie einen tiefschwarzen Holunderblütensaft gesehen, hielt ich dann aber lieber wieder meinen Mund.

Der Enttäuschte begab sich sogleich zu seinem Geländewagen und holte einen Sixpack Literflaschen Ananas-Schorle, mit der Bemerkung, ein Getränk dürfe ja nicht zu süß sein. Fortan trank er nur noch Eigenes, mit dem er zuvor meinen Kühlschrank vollgestopft hatte, ohne zu fragen.

In der „Linde“ dann lief er zu Höchstform auf.

„Die Tische und Stühle müssen nach einem Gewitter immer gleich abgewischt werden.“- und

„Ich trinke nur naturtrüben Apfelsaft, und zwar die Menge von einer kleinen Apfelschorle auf einen halben Liter aufgefüllt und nicht mit Mineralwasser, sondern mit Leitungswasser.“

Man brachte ihm, was er verlangt hatte und er gab es postwenden zurück, weil es viel zu warm wäre und Eiswürfel hinein gehörten. Ich meinte, vor Peinlichkeit unter den Tisch kriechen zu müssen.

Nachdem er lauthals referiert hatte, warum es klaren und trüben Apfelsaft gibt und mir sämtliche Herstellungsverfahren erklärt hatte, brachte mich dann das stets am Ende eines Referats erfolgende „Gell-da-schaust-was-ich-alles-weiß-Grinsen“ vollends so weit, dass ich dies alles nicht mehr mit leerem Verdauungstrakt ertragen konnte. Mein Frustessen bestand dann aus einer Bratwurst mit Vollkornbrot.

Hinterher kam mir die Chefin des Hauses zupass, die sich als schweizerische Landsmännin zu erkennen gab. Ab da war dann alles wunderbar und in Ordnung und der Nörgler beschränkte sich sodann darauf, über die wahnsinnig schlechte Beschilderung der deutschen Autobahnen zu schimpfen und darüber, dass es dort so gut wie keine Tankstellen gibt.

Wieder zuhause versuchte ich dann, seine Aufstehzeit am kommenden Morgen zu ermitteln. Ganz behutsam versuchte ich mich so, dem Zeitpunkt des Schlafengehens anzunähern.

„Ich schlafe jede Nacht genau sechs Stunden und das liegt an meinem Schnachapparat.“ Letzterer nahm ein gut Teil seines Gepäckes ein und war wohl ein Atemgerät, das bei Schlaf-Apnoe eingesetzt wird.

Nun, ich gab ihm zu verstehen, dass ich darauf bestehe, eine Stunde vor dem Gast unten zu sein. Die Schlafgemächer sind in meinem Haus alle im oberen Stockwerk. Daraufhin nannte er mir dann sechs Uhr als Zeitpunkt, an dem er unten auftauchen würde, vorausgesetzt allerdings, dass er dann bis Mitternacht aufbleibt.

Trotz meiner Übermüdung musste ich mir also noch drei Stunden Belehrungen anhören. Zwischendurch begann mir immer wieder der Kopf im Sekundenschlaf auf die Brust zu fallen, was er mit einem grinsenden „Bist-müde-ha“ bedachte.

Meine Hoffnung, nun doch wenigstens einmal viereinhalb Stunden schlafen zu können, nachdem ich gegen halb eins endlich im Bett war, zerschlug sich aber sehr schnell. Meine immer noch verkehrte oder fehlende Darmflora sorgte in der Nacht nämlich für eine flüssige Eilabfertigung der Bratwurst, was meine Ruhezeit zu armseligen zwei Stunden herabkürzte, da ich ja um fünf aufzustehen hatte.

Er kam dann natürlich nicht um sechs, sondern viertel nach sieben, was mir die Gewissheit verschaffte, dass meine Schlafzeit hätte 50 % länger sein können.

Völlig erschöpft schaute ich ihm zu, wie er während der ersten frühen Belehrungen sich zwei Semmeln schmierte und mit Unmengen Wurst und Käse gleichzeitig belegte, um eine davon zu verzehren und die zweite dann angefressen mit der Bemerkung liegen zu lassen:

„Jetzt kann i nimmer.“

Nun wollte er ja unbedingt das Hermann Hesse-Museum anschauen und die Stadt Calw. Ich konnte ihn also gegen neun bewegen, die zerschlissenen Leggings abzulegen und sich anständig anzuziehen.

Wir machten einen Stadtrundgang, der es in sich hatte. Über Marktplatz und Bischofstraße ging es weiter zum Gerbereimuseum, wo ich über das Gerberhandwerk belehrt wurde und dann stiegen wir hinauf zum Hermann Hesse-Gymnasium. Die Treppen und mein Tempo machten ihm das Reden unmöglich. Ich erholte mich also einige Minuten bei mit Grunzen, Röcheln und Schnaufen erfüllter Wortlosigkeit.

Schließlich machte er dann an einem Eiscafé in der Lederstraße endgültig schlapp.

„Was, Sie ham kein Ananaseis?!“ und fast schon angewidert:

„Ja, dann nehm ich…. ja, eben Erdbeer…. und… ach egal, Melone… ja meinetwegen halt noch Banane.“

Das Gesicht der Bedienung sprach Bände.

Dann wurde es richtig peinlich. Ein für die Öffentlichkeit völlig ungeeignetes, schlüpfriges Thema befleißigte er sich so laut und mit dreckigem Lachen zu erörtert, dass es an sämtlichen Tischen vor dem Café gut zu vernehmen war. Ich meinte, die Blicke der anderen Gäste zu spüren.

Mein ausbleibendes Lachen verursachte eine peinliche Pause, die der Unflat nutzte, die Damen am Nachbartisch dumm anzuquatschen und über die tatsächliche Rasse ihres Schoßhündchens aufzuklären.

Endlich war es Zeit fürs Museum, das um elf öffnete. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mich für eine Weile zu erholen und sagte, ich hätte das Museum schon mehrmals angeschaut und wolle die Zeit für einige Besorgungen nutzen, während er sich, trotz der Gefahr, schon alles zu wissen, über Hesse informierte. Eine Freundin hatte mich allerdings darüber informiert, dass es im Museum zu der Zeit eine Ausstellung mit Originalbildern von Hermann Hesse gab und die wollte ich natürlich nicht versäumen. Ich hoffte, das gäbe mir die Möglichkeit, mich vom Quälgeist zu entfernen. Weit gefehlt.

Das Angebot, eine gerade beginnende, halbstündige Führung mitzumachen, schlug er aus, wohl deshalb, weil ihm Museumserklärer, die eventuell mehr wissen als er, zutiefst zuwider waren. Mir blieb also die Hoffnung, er würde sich einige Ausstellungsstücke genauer anschauen, so dass ich mich hätte entfernen können. Die Heimsuchung aber folgte mir wie ein Hundchen.

Ich entdeckte die ersten Aquarelle von Hesse und blieb ehrfürchtig stehen. Unmittelbar daneben, im nächsten Raum, hatte die Führung gerade begonnen. Mein Begleiter hielt natürlich am selben Bild an und begann, die Maltechnik des Gemäldes zu erklären, und zwar so laut, dass die Dame nebenan ihr Referat unterbrechen musste. Also verließ ich fluchtartig den Raum, um nach anderen Objekten Ausschau zu halten, das Hundchen mir dicht auf den Fersen. Wieder blieb es am selben Bild stehen wie ich und wusste auch sofort eine Belehrung dazu.

„Ich male ja auch, aber…“.

Was dann folgte, war die in Umschreibungen verhüllte Aussage, „ich kann‘s aber besser“. Schließlich gipfelte das alles in den Worten:

„Also malen konnte er nicht, das sieht man sofort. Mir gefallen die Bilder nicht, sie sind viel zu plakativ.“

Nach den vielen Bausünden der Stadt, den blöd angelegten Anlagen am Nagoldufer und den unzähligen anderen beschissenen Dingen, die es in Calw zu entdecken gab, kriegte ich nun aber endgültig zu viel. Ich rannte ihm so schnell davon, dass er mir mit seiner Leibesfülle zunächst nicht mehr folgen konnte. Zudem war mein inzwischen automatisiertes Abnicken und Jasagen schon geraume Zeit völlig in unbändiger Aversion erstickt.

Völlig atemlos holte er mich schließlich wieder ein, als ich einen letzten Versuch unternahm, eines der wunderschönen Aquarelle in Ruhe und ohne Unterweisung zu betrachten.

„Redst du jetzt nimmer mit mir?“ fragte er entrüstet.

„Hör zu!“ platzte mir der Kragen, „ ich empfinde so was wie Ehrfurcht vor dem Werk und der Botschaft dieses Mannes und da geht mir dein Gemecker so was von auf den Zeiger….!“

„Ja, wenn das so ist, dann halt ich eben mei Goschn,“ bekam ich zur Antwort. Leider war das aber nur ein leeres Versprechen.

Gott sei Dank gelang es mir einen Stock höher mit Hilfe von zwei Damen vom Museum meinen Schatten zum Besuch des angebotenen Filmes über das Leben von Hermann Hesse zu überreden. Meine bissige Bemerkung: „Wozu bist Du eigentlich hier her gekommen? Interessiert dich der Hesse überhaupt?“ mag wohl auch zum Erfolg beigetragen haben.

Wir verabredeten uns für zwölf Uhr im Parkhaus und ich konnte mich endlich für ein paar Minuten befreien. Eine der Damen nahm ihn mit in den Vorführraum, um für ihn den Filmapparat einzuschalten.

Am „Café am Markt“ gönnte ich mir zur Erholung einen Milchkaffee und eine Butterbrezel, die statt mit Mehl mit Gummi gemacht worden zu sein schien. Im Moment war dies allerdings mein kleinstes Problem. Mit viel Kaffee ließ sich das elastische Feuchtgebäck aber im Mund auflösen.

Völlig erschöpft setzte ich mich darauf hin im Parkhaus ins Auto, um die restlichen zehn Minuten ohne Genörgel und Besserwisserei zu genießen. Ich schloss die Augen und ich weiß noch genau, was ich dachte in diesem Moment:

„Dieser Mann ist eine Pest!“

Ich war überhaupt nicht böse darüber, dass mein Gast sich ziemlich verspätete und da er ständig nach Burgen zu fragen pflegte, kutschierte ich ihn also zur Burg Zavelstein, die Ruine einer alten Festung aus dem 13. Jahrhundert. Ich parkte absichtlich weit weg von dem Gemäuer und legte ein gutes Tempo vor, was mir eine unterrichtfreie Pause verschaffte.

Leider konnte ich mich kurz vor der Burg nicht beherrschen, als ich eine seltene Nelkenpflanze in einem Garten entdeckte und stehen blieb.

Ein röchelndes „die hab ich auch in meinem Garten, bloß noch weißer“ trieb mich wieder in die Flucht und, in der Burg angekommen, setzte ich mich einfach nur noch auf einen Stein im Schatten und blickte stumm auf meinen geliebten Schwarzwald hinaus.

„Weißt woher die Löcher in den Steinen am Turm kommen?“

Und da war es wieder, dieses Gell-da-schaust-was-ich alles-weiß-Grinsen.

„Ich hab mich nämlich auf der Hinweistafel dort schlau gemacht.“

Ohne die Erklärung abzuwarten fuhr ich ihm ins Wort:

„Was ist, willst du nicht hinauf? Man hat einen tollen Ausblick von da oben.“

Damit schenkte ich mir ganz unerwartet eine richtig lange Erholungspause, denn zu meinem Erstaunen stieg er tatsächlich hinauf.

Inzwischen war es kurz vor 14 Uhr geworden. Hunger verspürte der Burgensüchtige noch keinen, also schlug ich das Kloster Hirsau als nächstes Ziel vor.

„Klöster interessieren mich nicht.“

Die Verzweiflung gab mir erstaunliche Argumente ein:

„Also, wenn man sich über Calw ein Bild machen will, dann gehört das Kloster einfach mit dazu. Es ist eine Riesenanlage und wirklich beeindruckend. Ruinenmauerwerk gewaltigen Ausmaßes und außerdem gibt es da ein tolles Café, wo man im Freien und im Schatten sitzen kann…“

„Einen Durst hätt ich schon.“

Also: Kloster Hirsau. Der Herr Oberlehrer „beging“ die Anlage in etwa so, wie wenn er durch einen großen Supermarkt eile, aus dem er ganz hinten nur ein Päckchen Salz holen wollte. Einen einzigen, kurzen Halt macht er an einer sehr hohen Buntsandsteinfassade, an deren Mauervorsprung in zehn Metern Höhe etliche Schwalbennester befestigt waren. Die flugbegabten, kleinen Bauherren schwirrten zahlreich in der Luft herum.

„Was sind das für Vögel?“

Ich dachte noch, ein Lichtblick, er outet sich, etwas nicht zu kennen! Eifrig ergriff ich meine Chance, auch mal was zu wissen:

„Das sind Mehlschwalben.“

Die Antwort trieb mich wieder wortlos vorwärts:

„Nein, das sind keine Schwalben. Das sind Mauersegler.“

Die Frage entpuppte sich also im Nachhinein als Prüfung. Immerhin lernte ich hinzu; von Mauerseglern, die Schwalbennester bauen, hatte ich noch nie vorher gehört.

Endlich kamen wir am Café an. Es war dies mehr eine originell aufgemachte Erfrischungseinrichtung mit recht freundlichem, aber wenig professionellem Personal, was der Einrichtung ein etwas heimeliges Flair verlieh. Mein gnadenloser Begleiter bestellte seine „trübe, mit Leitungswasser aufgefüllte“ Apfelschorle und ließ sie auch gleich wieder als zu warm zurückgehen. Mit Eiswürfeln trank er dann eine auf ex und eine zweite innerhalb von nur drei Minuten. Danach war mir klar, was seine wirklichen Beweggründe gewesen waren, letztlich doch zum Kloster zu gehen.

Ich erinnere mich, bei mir gedacht zu haben, ich müsste mir die besuchten Lokalitäten aufschreiben, um sie, bis Gras über diese Auftritte gewachsen war, künftig länger zu meiden.

Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen. Mein Nervenkostüm wurde immer dünner. Allein schon das ständige Grunzen und Röcheln und vor allem das ungenierte, pausenlose Rotzhochschniefen begannen mich zum Kochen zu bringen.

Es war wieder die Verzweiflung, die mir eine Glanzidee einflößte. In diskret gedämpfter Lautstärke schlug ich vor:

„Weißt du was, ich sollte mal aufs Klo. Jetzt fahren wir erst mal zuhause vorbei.“

„Gehst nicht so gern auswärts aufs Klo, ha?“

Seine Frage artikulierte er wie gewohnt im laut vernehmlichem Tenor, so dass die Gespräche an den Nachbartischen schlagartig verstummten. Die übrigen Café-Gäste schienen geradezu meiner Antwort zu harren.

Ehrlich gesagt war mir das nun aber schon im wahrsten Sinne des Wortes scheißegal und ich musste beinahe lachen, als ich antwortete:

„Ja, da bin ich ganz eigen.“

Natürlich erhob nun auch ich dabei meine Stimme, schließlich wollte ich das gespannte Publikum doch nicht enttäuschen.

Die Zeit zuhause nutzte ich dann, um fast eine Stunde totzuschlagen. Dass ich das Örtchen überhaupt nicht besuchte, fiel dem Hereingelegten gar nicht auf. Sein „jetzt hab i Hunger“ brachte uns wieder auf die Beine bzw. Räder. Ziel war die Gartenwirtschaft am Wanderheim in Zavelstein.

Anscheinend gewöhnt man sich mit der Zeit wirklich an alles, denn die folgenden Szenen ertrug ich mit einer mich selbst erstaunenden Gelassenheit:

Die Bestellung der trüben, aufgefüllten Apfelschorle geriet zum Problem, als die Bedienung meinte, sie könne das Getränk nicht mit Leitungswasser anbieten.

„Da mangelt’s erheblich an der Anpassungsfähigkeit“, giftete der Enttäuschte und ließ sich aber zu einer Holunderblütenschorle überreden. Dass es die nun allerdings sehr wohl mit Leitungswasser gab, ließ in mir den Verdacht keimen, dass die junge Dame den Dürstenden zu veräppeln im Begriff war, wofür mir auch ihre auffällig freundliche Gelassenheit ein Indiz zu sein schien. Diesmal war ich dem Lachen näher als der Verzweiflung.

Nun, die Schorle kam und war auch auf einen halben Liter aufgefüllt – womit auch immer. Inzwischen war der problemsuchende Blick des Lehrmeisters fündig geworden. Mehr oder weniger über unseren Häuptern, im wuchtigen Geäst einer amerikanischen Eiche gewaltigen Ausmaßes, entdeckte das fehlersuchgeschulte Auge des Oberlehrers zwei dürre Äste.

„Also Fräulein, da schauns mal hinauf. Sehns die verdorrten Äste? Die können jeden Moment herunterfallen und das geht so nicht. Das erschlägt ihnen die Gäste beim nächsten Wind.“

Hochamüsant fand ich dann wiederum die Reaktion: Die Dame antwortete vernehmlich lachend:

„Ich werd’s sofort weitermelden.“

Das Lachen sollte mir allerdings noch vergehen. Als die Bedienung zum Kassieren kam, entstand, wie schon im Café zuvor, eine peinliche Pause. Niemand zeigte auch nur andeutungsweise Aktivitäten, die auf die Bereitschaft die Kosten zu übernehmen hätten hindeuten können. Also blieb mir nichts anderes übrig, als selbst die Initiative zu ergreifen.

Die Rechnung in der „Linde“ am Abend zuvor hatte großzügiger Weise mein Gast übernommen, was mich zu der Bemerkung verleitete, mich am Folgetag revanchieren zu wollen. Äußerst großzügig ausgelegt, überließ der Herr Lehrer mir darauf hin alle Kosten des gesamten Tages. So hatte ich zuvor schon im Eiscafé, den Eintritt ins Museum und im Kloster-Café bezahlt. Dass sich diese Vorgehensweise auch auf das Abendessen ausweiten würde, hatte sich allerdings schon vor der Bestellung abgezeichnet in der Bemerkung des Bescheidenen:

„Ich nehm das Teuerste auf der Karte. Ich hoff, des is in Ordnung.“

Und das war keineswegs als Frage formuliert. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ihm auch noch die 50 Cent für die Turmbesteigung in der Burg nachträglich zu erstatten.

Wieder zuhause bin ich dann schier zusammengebrochen vor Müdigkeit und ich harrte geduldig des Schlimmen, das da noch kommen sollte.

War es doch noch nicht mal 19 Uhr und die Frage nach der Aufstehzeit erbrachte den gnädigen Bescheid, dass sechs Uhr wie heute gut wäre. Mein extrem anspruchsloser Gast verband diese Information jedoch gleich mit der Androhung, dass er aber nicht schon nach dem Frühstück abreisen könne, um nicht zu früh bei den nächsten, noch heimzusuchenden Opfer anzukommen.

Ich hatte inzwischen resigniert, nahm geduldig am Unterricht bis Mitternacht teil und stellte meinen Wecker wiederum auf fünf Uhr. Meine Leidensfähigkeit schien nun grenzenlos zu sein.

Ich will aber nicht auf zu hohem Niveau meckern, immerhin waren mir in der letzten Nacht der Heimsuchung viereinhalb Stunden Schlaf vergönnt. Die angesichts meiner körperlichen Verfassung im Wanderheim todesmutig verzehrten Maultaschen mit Kartoffelsalat wurden von meinem Verdauungsapparat gnädig als erste Nahrung nach dem Pfifferling-Gau akzeptiert, wofür die Gummibrezel wohl schon eine Grundlage gelegt hatte.

Am Morgen erschien der Herr, nachdem ich das Morgenmagazin im Fernseher auf die Lautstärke für fast Gehörlose hochgefahren hatte, dann doch immerhin um halb acht und schmierte sich artig nur ein Brötchen, zwischen dessen Hälften er die Reste von Wurst und Käse verschwinden ließ. Die prallvollen, abgetragenen Leggings signalisierten unmissverständlich, dass der Herr Lehrer keineswegs reisefertig war. So blieb er denn auch seelenruhig am Tisch sitzen und schaute mir nach dem Frühstück beim Abräumen zu.

Anstatt mich dazuzusetzen gab ich mich gut gelaunt aber äußerst geschäftig. Die Tomaten mussten gegossen werden, wie auch die Pflanzen im Wintergarten. Sodann war die Wäsche dran und ich verschwand in den Gästegemächern, um das in seiner Gesamtheit ausgiebig genutzte Doppelbett abzuziehen und die Bezüge in die Maschine zu stecken.

Ich versuchte ihn noch zu animieren, mich beim Tomaten-Gießen zu begleiten, hatte er doch noch keinen einzigen Blick in meinen Garten geworfen. Er lehnte jedoch mit den Worten ab:

„Der Garten und überhaupt Pflanzen interessieren mich nicht.“

Am Abend zuvor, beim nächtlichen Zeittotschlagen, erdreistet ich mich zu fragen, was ihn denn nun eigentlich an Hermann Hesse interessiert habe, denn er hatte ja bei seiner Selbsteinladung ausdrücklich auf einem Besuch im Museum bestanden.

„Ich hab noch nie was gelesen von Hesse außer Lyrik. Mich interessiert auch nur Lyrik. Mit Kurzgeschichten oder gar Romanen kann ich nichts anfangen…“

So in etwa sinngemäß seine lapidare Antwort.

Nun, um zum Ende zu kommen: Nachdem ich überhaupt keine Anstalten mehr machte, mich am morgendlichen Zeitmord zu beteiligen, muss der Alleingelassene sich nach einer Stunde irgendwie überflüssig vorgekommen sein. Endlich ging er nach oben, zog sich anständig an und packte seine Sachen. Auf seine Frage, was er denn nur machen solle, weil er ja viel zu früh beim nächsten Gastgeber ankommen würde, gab ich ihm die Antwort, die ihn dann letztlich zum Abschied trieb:

„Mach doch einfach ein paar Pausen, iss was in einem Rasthof oder vielleicht gibt es ja die eine oder andere Burg am Weg…“

 

Vor langer Zeit, in Jugendjahren, bin ich aus der katholischen Kirche ausgetreten und ebenso lange ist es wohl her, dass ich mich das letzte Mal bekreuzigt habe. An jenem Morgen aber, als ich durchs Küchenfenster die Rückleuchten des Schweizerischen Geländewagens sah, da habe ich es getan.

 

 

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